Klagen
   


Karsten Hinrichsen
Dorfstr. 15
2211 Brokdorf

27.4.1993

Brokdorf-Betriebsgenehmigung:
Kläger siegt vorm Gemeinsamen Senat aller obersten Bundesgerichtshöfe

Am 27.4.1993 hat der gemeinsame Senat aller obersten Gerichtshöfe des Bundes entschieden, daß die Klage gegen die Zweite Teilbetriebsgenehmigung für das AKW Brokdorf aus dem Jahre 1986 an das Oberverwaltungsgericht Schleswig zurückverwiesen wird, weil das vorinstanzliche Urteil des OVG Lüneburg erst sechseinhalb Monate nach dessen Verkündung schriftlich begründet wurde. Der Gemeinsame Senat hält eine Frist von fünf Monaten zwischen Verkündung eines Urteils und der schriftlichen Niederlegung der Urteilsgründe für maximal zulässig. An diese Frist sind in Zukunft alle Gerichte der Bundesrepublik gebunden.

Der Gemeinsame Senat hatte die Rechtsfrage zu entscheiden, wie lange sich Richter an die mündliche Verhandlung und die Gründe für die Urteilsfindung erinnern können. Die verschiedenen obersten Gerichtshöfe des Bundes hatten dazu bislang unterschiedliche Rechtsauffassungen vertreten. Die Fünf-Monatsfrist wurde nun für alle Gerichte einheitlich und verbindlich festgesetzt. Ausgangspunkt war die schriftliche dienstliche Äußerung eines Senatsmitglied des OVG Lüneburg gewesen, das erklärt hatte, sich nicht mehr daran erinnern zu können, ob die zur Unterschrift vorgelegten Gründe mit denen der mündlichen Urteilsbegründung übereinstimmten.

Der Kläger, Karsten Hinrichsen, wohnhaft in Brokdorf, zwei Kilometer vom AKW Brokdorf entfernt, hatte gegen die Zweite Teilbetriebsgenehmigung geklagt, weil er sich in seinem grundgesetzlich garantierten Recht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Artikel 2 des Grundgesetzes verletzt sah. Als Begründung hatte er u.a. angeführt, daß

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der Einsatz von Plutonium-Mischoxid-Brennelementen nicht durch das Atomgesetz abgedeckt sei

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die Entsorgungsfrage nicht geklärt sei

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es auch im AKW Brokdorf zu Kernschmelzunfällen kommen könne (das AKW Brokdorf war als erstes AKW der Welt nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl ans Netz gegangen)

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nach dem Tschernobyl-Unfall durch die zusätzliche Strahlenbe lastung durch den Betrieb des AKW Brokdorf die Grenzwerte der Strahlenschutzverordnung nicht mehr eingehalten werden könnten

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er durch seine individuelle Ernährungsweise (Gemüse aus dem eigenen Garten, Schaffleischverzehr, eigene Kuh, hoher Milchkonsum) einer höheren Strahlenbelastung ausgesetzt sei als die in den Berechnungsvorschriften angenommene "Referenzperson". Dadurch sah der Kläger sein Recht auf Freizügigkeit zugunsten des Reaktorbetriebs verletzt.

Alle Vorgerichte hatten geurteilt, daß die Betriebsgenehmigung rechtmäßig erteilt worden ist. U.a. hatte der 7. Senat Atomsenat)des BVerwG entschieden, daß die noch immer vorhandene Radioaktivität durch den Tschernobyl-Unfall bei der Ermittlung der Strahlenbelastung nicht zu berücksichtigen sei.

Der Kläger hat sich zurückhaltend dazu geäußert, ob er den Prozeß angesichts des erheblichen Kraft-, Zeit- und Geldaufwands weiter führen wird. Nach wie vor hält er es für wichtig, vor dem Bundesverfassungsgericht die Frage klären zu lassen, ob ? nach dem Unfall in Tschernobyl und den Ergebnissen verschiedener Reaktorsicherheitsstudien, wonach es auch in bundesdeutschen Atomanlagen zu Kernschmelzunfällen kommen kann, das sog. Kalkar-Urteil des BVerfG aus dem Jahre 1978 noch immer Bestand hat, daß "Kernschmelzunfälle jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens liegen, unentrinnbar sind und insofern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen sind."